Die Arbeiten von Brigitte Kowanz zählen vielleicht zu den Werken zeitgenössischer Künstler, die sich am kontinuierlichsten mit dem bebauten Raum auseinandergesetzt haben bzw. sich noch immer mit diesem auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung wirft einige grundlegende Fragen bezüglich des Verhältnisses zwischen Vorgegebenem und Werk, zwischen Auftrag und Ausdrucksfreiheit auf. Die Auseinandersetzung mit dem bebauten Raum – mit dem architektonischen Gebäude – bedeutet, dessen Existenz als eine vorhandene Ausgangssituation zu akzeptieren, als einen Zustand, von dem aus man sich in Bewegung setzt. Dies steht im Gegensatz zu dem, was geschieht, wenn das Werk des Künstlers ohne jede Vorbedingung im Atelier kreiert wird. Ein Gebäude ist etwas Erschaffenes, eine ‚Sache‘ mit einer bestimmten Disposition, die bereits abgeschlossen ist. Auch wenn der Architekt Platz für mögliche Interventionen des Künstlers lässt, tut er dies nicht, weil dem Gebäude etwas fehlen würde, sondern – wenn überhaupt – nur weil er einen gewissen Spielraum für andere einplant. Die Möglichkeiten dieses Zusammenspiels zwischen Kunst und Architektur sind notwendigerweise Bedingungen unterworfen: Während für den Künstler der Architekt als Auftraggeber fungiert, mit dem er sich auseinandersetzen muss, hat der Architekt seinerseits einen Auftraggeber, demgegenüber er sich verantworten muss, und oftmals ist die architektonische Planungsphase eng mit der Leitungsorganisation verbunden. Allerdings könnte sich in dieser komplexen dynamischen Beziehung eine weitere Möglichkeit eröffnen, und zwar wenn die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Künstler bereits in der Entwurfsphase beginnt, also zu einem Zeitpunkt, da die Gebäudeplanung noch nicht endgültig feststeht. In der Regel bietet sich in dieser Entwurfsphase allerdings nur selten die Gelegenheit zur Besprechung, sodass dem Künstler – der dazu aufgefordert ist, bei einem im Grunde bereits vollendeten Gebäude zu intervenieren –  eine sehr heikle Aufgabe zukommt: Er muss die Möglichkeit erforschen, innerhalb bereits festgelegter Konditionen weitere Zeichen zu setzen, zusätzliche Präsenz zu schaffen, indem er eine Fähigkeit zu Flexibilität, Anpassung und Adhärenz entwickelt. Es handelt sich dabei um eine notwendige Phase des Zuhörens, um zu verstehen, was das architektonisch bereits Festgelegte latent als weitere, bisher noch nicht vorhandene Möglichkeit eröffnet. Bei der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk stellt sich dasselbe Problem des Zuhörens, der Adhärenz an bereits Vorhandenes. In diesem Fall geht es um Konditionen, die von einem bestimmten künstlerischen Weg vorgegeben sind; bei der Beschreibung wird der weiterführende Prozess erforscht, den das Werk selbst ermöglicht, und zwar innerhalb der durch das bereits Konstruierte vorgegebenen Bedingungen. Sich künstlerisch an die Vorgaben des Auftraggebers zu halten, bedeutet nicht, sich einfach mit diesen zu ‚vereinen‘. Genauso wie sich die kritische Auseinandersetzung nicht auf ‚mimetische‘ Weise in den Facetten des Werks verlieren darf.  In beiden Fällen handelt es sich um die Suche nach Deckungslinien, die ihrerseits Substanz haben, demnach nicht nur an der Oberfläche liegen. In vier verschiedenen Gedankengängen wird versucht, weitere Interpretationsräume zu erfassen.

Zeit-Räume

Die Zeit – ihre Messung und Darstellung – ist ein immer wiederkehrendes Problem, mit dem sich Kowanz seit ihren ersten Installationen in architektonischen Gebäuden Ende der 1980er-Jahre befasst. Für die Kunst war es seit jeher ein schwieriges Unterfangen, die Pervasivität und das Vergehen der Zeit darzustellen und zu inszenieren, ihr einen Maßstab zu geben: Man denke an die Fingerbewegung auf der mit Staub bedeckten Laute in den Stillleben von Evaristo Baschenis oder an die Staubzucht von Duchamp und Man Ray. In beiden Fällen wird die Zeit durch das dargestellt, was sich auf der Oberfläche ablagert, diese verdeckt; das Vergehen der Zeit ist ein Prozess fortschreitenden Verschleierns. Etwas setzt sich auf den Dingen ab und dämpft ihren Glanz. Aber Zeit hat für Kowanz nichts mit der Zeit zu tun, die abläuft, nichts mit Zeit/Staub. Vielmehr ist sie daran interessiert, die Plötzlichkeit des Glanzes von Zeit/Licht zu inszenieren. Das Kunstwerk ist auch weiterhin kein unproblematischer Versuch, Zeitlichkeit zu messen und darzustellen, aber hier geht es nicht länger um Zeit, die vergeht und abläuft, sondern um Zeit/Augenblicklichkeit, die uns entgeht, weil wir nicht in der Lage sind, sie wahrzunehmen. Zumindest so lange nicht, bis man versucht, in die Details von Zeit/Licht vorzudringen und sie in einer paradoxen, exakten Zahlenreihe aus Neonziffern zu erfassen; die leuchtenden Zeichen stellen den Bruchteil einer Millionstel Sekunde dar, die das Licht braucht, um eine bestimmte Entfernung in Metern zurückzulegen. Kowanz schafft verschiedene Versionen von Werken, die sich der Schnelligkeit des Lichts widmen. Das Problem der Darstellung von Zeit umspannt jedoch einen größeren Bogen von Arbeiten und unterschiedlichen formalen Lösungen: von KALENDER (1996) und RUND UM DIE UHR, WELTZEITEN (1996) bis hin zu ANOTHER TIME... (2004/05). Das, was in den auf der Lichtgeschwindigkeit basierenden Werken (mehr noch als bei anderen Werken zum Problem Zeitlichkeit) Bedeutung gewinnt, betrifft das Raum/Zeit-Paradox, das sich aus physikalischen Theorien ergibt, wenn diese auf alltägliche Dimensionen angewandt und beispielsweise Teil eines Gebäudes werden, wie unter anderem in den Installationen im Meteorit im RWE Park Essen (1997/98) oder im Foyer des Wienerberger Business Parks Vienna (1995). Der von Kowanz präsentierte leuchtende ‚Kurzschluss‘ entsteht zwischen dem vom Betrachter tatsächlich wahrgenommenen Raum/Zeit-Zustand und der Messung des Zeit/Raum-Verhältnisses mithilfe des Mediums Licht (künstlich) – einem Medium, das einen Übergang von der reinen Abstraktion der Daten der modernen Physik zum konkreten ‚Hier und Jetzt‘ des Betrachters ermöglicht. Kowanz visualisiert die Zeitlichkeit auf Grundlage ausnahmslos physikalischer Messparameter und großer konzeptioneller Kohärenz bezüglich der Beschaffenheit ihrer Arbeitsmaterialien. Diese Inszenierung ist für sie ein Prozess der Erleuchtung, ein Prozess, der mit natürlichem Licht als Medium nicht möglich wäre; erst eine Entfremdung von der phänomenalen Natürlichkeit ermöglicht das Erlangen eines Bewusstseins für die unsichtbare Seite des Sichtbaren. Und dabei handelt es sich nicht um eine metaphysische, sondern um eine logische Schlussfolgerung, denn die Parameter, von denen Kowanz in ihrem Werk ausgeht, stehen mit den Theorien von Einstein und den Wahrnehmungsdynamiken in Verbindung. Der Titel (LICHTGESCHWINDIGKEIT sek/6m (vertikal) – LICHTGESCHWINDIGKEIT sek/5m (horizontal) ist unerlässlich, um das Werk zu verstehen; er liefert eine ausdrückliche Erklärung für die Arbeitsweise von Kowanz. Allerdings erschließt sich dies dem Auge des Betrachters nicht auf Anhieb; dieser sieht vielmehr eine enigmatische Zahlenreihe, die sowohl unaussprechlich ist als auch an die Grenzen des Vorstellbaren stößt. Der Titel stellt klar, dass die Art und Weise, in der Kowanz wirkt, nicht willkürlich ist, sondern dass sich das Werk in Bezug auf die Genauigkeit als vollständig abgeschlossen und enigmatisch präsentiert. ‚Vor den Augen‘ liegt eine ebenso strikte wie paradoxe Sequenz des Nicht-Messbaren; so als ob in den Kern der Genauigkeit eines Parameters, der die Geschichte und Entwicklung des modernen wissenschaftlichen Denkens bestimmt, eine vom Wahrnehmungsgesichtspunkt aus völlig verfremdende und zugleich auch enthüllende Ebene einbezogen wäre. Auf den vom Architekten konzipierten Raum bezogen, wobei sich die Arbeitsweise des Architekten – und es könnte auch gar nicht anders sein – an der Greifbarkeit der Dinge und Materialien, sprich allein an der Dimension des Messbaren misst, stellt das Werk ein leuchtendes Gegenstück des Nicht-Messbaren dar: 0,0000000…

Maßeinheit

Den vielleicht explizitesten Versuch, eine weitere Dimension in das Konstruierte einzubeziehen, es für andere Beziehungen zu öffnen, unternimmt Kowanz in ihrer ganz speziellen Arbeit über das – bisher vornehmlich räumliche – Konzept der Maßeinheit (MASSTAB 1:1 – 1:6. Von diesem Werk gibt es mindestens zwei Versionen, die es beide zu beschreiben lohnt. Die erste davon wurde im ersten Stock des Gebäudes des Architekturforums Tirol in Innsbruck (1994–1996) ausgestellt und umfasste sechs Interventionen an der Innenseite der Glaswände; jede Intervention bestand aus einem Viereck aus weißen Neonröhren und aus Maßstabsverhältnissen (von 1:1 bis 1:6), die in Form von Neonziffern am Perimeter der Vierecke erschienen. Diese Dimensionen der leuchtenden Perimeter der sechs verschiedenen Neonvierecke entsprachen jeweils dem Maßstabsverhältnis zum Perimeter der Glaswände. Die zweite Version des Werks (MASSTAB 1:1 – 1:4, 1994/2007) setzt sich dagegen aus L-förmigen Elementen von unterschiedlicher Länge zusammen, die im Maßstabsverhältnis zu den horizontalen und vertikalen Flächen des Raums stehen, in dem die Arbeit jeweils gezeigt wird. Auch in diesem Fall zeigen die leuchtenden Ziffern das Verhältnis zwischen den Maßen der Neonelemente und den Maßen der Flächen an, mit denen sie in Verbindung gebracht werden. Bei dieser zweiten Version handelt es sich de facto um eine standortspezifische Intervention, die von Mal zu Mal neu berechnet und positioniert wird. MASSTAB ist eine Arbeit, die dem Genre der tautologischen Erklärungen zugeordnet werden könnte, wobei die Intentionen der Künstlerin buchstäblich ans Licht gebracht werden, ohne mögliche ‚Freiräume‘ für Interpretationen zu lassen (entsprechend der Verfahrensweise bei LICHTGESCHWINDIGKEIT sek/6m). Aber genau diese Adhärenz zwischen Intention, formaler Lösung und spezifischem Raum ist es, die den problematischen, keineswegs offensichtlichen Aspekt der Arbeit darstellt. Denn sie basiert auf der Betonung (nur dem Anschein nach tautologisch) des "Verhältnisses" zwischen künstlerischem Zeichen und dem Kontext, in dem dieses Zeichen artikuliert wird. Jedes Mal, wenn in eine vorgegebene Situation interveniert wird, betrifft die wesentliche Frage, die Kowanz im Voraus und methodologisch erhellt, den notwendigen Zusammenhang, sprich die Suche nach Adhärenz, zwischen dem eigenen Wirken und einem festgelegten Kontext. Mit der Erklärung, dass es sich um ein "Verhältnis" handelt, ein Verhältnis, das nicht einfach der künstlerischen Willkür überlassen werden kann, ohne den Verlust von Adhärenz zu riskieren, wird gleichzeitig das Kriterium zum Ausdruck gebracht, das bewirken kann, dass dieses Tun und diese Geste in einer spezifischen Situation verankert wird. Somit hebt die Künstlerin bei ihrem Schaffen das Problem der Beziehung zwischen dem eigenen Tun und dem Kontext hervor und offenbart dabei, dass es stets um die Frage des Maßstabs, der Größenverhältnisse, der Beziehungen, die ins Spiel kommen, geht: somit allgemein um eine Frage der "Metrik". Man betrachte beispielsweise noch einmal das erste Verhältnis (1:1), das die Installationsserie in Innsbruck eröffnet: Während die erste Ziffer des Verhältnisses den gegebenen Zustand anzeigt, den festgelegten Kontext, den vom Architekten geplanten Raum, steht die zweite Ziffer – offensichtlich identisch mit der ersten – als gewählte Maßeinheit für die Besonderheit der Intervention der Künstlerin. Dabei wird bezüglich dessen, was vom Architekten vorgesehen ist, eine neue Beziehung zu Kontext und Raum hergestellt. In ihrer schlichten Einfachheit macht die Arbeit die operative Methodologie von Kowanz deutlich: an den Gegebenheiten festhalten und die Grundbestandteile hervorheben, indem man sie von etwas Glanzlosem in etwas Leuchtendes verwandelt. Das Werk von  Innsbruck war nur nachts gut sichtbar, wenn also ein anderes Maß der Dinge – gegenüber dem gewöhnlichen Tagesaspekt – deutlich hervorkommen und in Erscheinung treten kann.
Die Frage, wie der Perimeter einer Fläche unterstrichen werden kann, um den ansonsten unsichtbaren Rand hervorzuheben, wird Jahre später bei der Installation in der Landesmusikschule von Windischgarten wieder aufgegriffen. In diesem Fall geht es nicht nur darum, die versteckte zweidimensionale Form sichtbar werden zu lassen, sondern auch darum, ein Volumen zu erzeugen, das sich möglicherweise zwischen zwei perimetrischen Unterstreichungen befindet; diese bestehen aus gelben Neon-Linien/Lisenen, die den leeren Raum zwischen zwei architektonischen Körpern umgeben und eine großzügige Terrasse bilden. Hervorheben, unterstreichen: Im Grunde geht es darum, den Rändern des Konstruierten zu folgen und diejenigen seiner Begrenzungen zu erleuchten, die fähig sind, eine zusätzliche Form zu schaffen, ohne einen einzigen Kubikzentimeter Baumaterial hinzuzufügen. 

Mittel der Hervorhebung

Die im Architekturforum gezeigte Arbeit bezieht sich auf eine bedeutende Reihe von Interventionen, die die Künstlerin an architektonischen Elementen vorgenommen hat und deren Funktion darin besteht, Innen- und Außenräume miteinander in Beziehung zu setzen. Es handelt sich um Glasflächen, die sich in ihrer Typologie, Funktion und Positionierung von den üblichen Elementen im Erdgeschoss in der großen transparenten, gänzlich in das Gebäude integrierten Wand unterscheiden. Die Intervention in das Konstruierte betrifft bei Brigitte Kowanz im Wesentlichen Bereiche und Elemente, die eine öffentliche Bestimmung haben und einen potenziell kollektiven Raum und Gebrauch definieren. In diesem Sinne stellt ihre Arbeit einen Gegensatz zum architektonischen Werk dar, wenn man dieses als ‚undurchsichtige‘ Volumetrie betrachtet, die dazu neigt, private und öffentliche Bereiche voneinander zu trennen. Das architektonische Gebäude muss sich zur eigenen Daseinsberechtigung der Unbestimmtheit entledigen und sich gemäß Nutzungszweck und Auftragsanforderungen spezialisieren. Die Arbeit von Kowanz hingegen führt das Konstruierte zu einer umfassenderen Dimension zurück, die nicht länger auf eine bestimmte Funktion beschränkt, sondern vielmehr auf eine allgemeine kollektive Funktion ausgerichtet ist. Es handelt sich um eine Arbeit an der Grenze und Schwelle zum Konstruierten, wobei mögliche Vorsprünge und Ausdehnungen erforscht werden, auch wenn diese in der architektonischen Planung nicht explizit vorgesehen waren. Man könnte vielleicht sagen, dass das Werk von Kowanz eine Arbeit am "Unbewussten" des Gebäudes zu sein scheint; das Gebäude wird für eine kommunikative Dimension geöffnet, die nicht so sehr an die ursprünglich vorgesehene Funktion gebunden ist. Es gibt verschiedene Arten und Weisen, in denen sich dieser Prozess des Vorspringen und Ausdehnens konkretisieren kann. Die vier Glasstrukturen des Werks VIRTUELLE VITRINEN (1999–2000) im Museum Kitzbühel bilden tatsächlich Vorsprünge, die unterschiedlich weit aus den ursprünglichen Fensterrahmen hervorragen. Die Ausdehnung wird zudem durch die veränderliche Leuchtkraft der Strukturen betont; diese Leuchtkraft verstärkt beziehungsweise verringert sich durch eine elektronische Vorrichtung, die den Rhythmus des menschlichen Atems simuliert. So ergibt sich in der anorganischen Struktur des Konstruierten – die sich zu beleben und in leuchtender Weise zu atmen scheint – ein Bezug zur organischen Dimension. Bei der Installation für das Bürogebäude MEAG in München treten die vier Vitrinen alle gleich weit aus der kontinuierlichen Fassadenlinie hervor. Der Rhythmus der von 15 roten und 15 gelben Neonstangen erzeugten Leuchtsequenzen wird hier nicht von der Binarität des Atems vorgegeben, sondern vielmehr von einer komplexen Sequenz, die an eine minimalistische und serielle Musikkomposition erinnert – es entsteht eine wahre  LICHTPARTITUR (2000–2001). Bei der Sequenz der "Neonstelen", die den Fußgängerweg des Jakob-Burckhardt-Hauses in Basel (2002–2004) mit einem Rhythmus versehen, haben sich die Glasstrukturen vollständig vom Gebäudekörper befreit; sie treten aus diesem heraus und werden zu allein stehenden transparenten Volumen, wobei dennoch ein klarer formaler Bezug zu den Dimensionen der Fenster der Fassaden gewahrt wird. Auch Letztere gehen auf eine Zusammenarbeit zwischen Architekt und Künstlerin zurück und wurden mithilfe einer gewellten Alu-Verkleidung in eine leuchtende Modulation verwandelt. Der Rhythmus der Leuchtkomposition der Stelen ergibt sich nicht länger aus dem Bezug zum Atmen oder zur Musik, sondern aus dem fortlaufenden Lesen der Buchstaben, die die Wörter ORT und WEG bilden. Die aus dem Gebäude gänzlich heraustretenden Leuchtstrukturen werden zu Hinweisen, die den Sinn einer urbanen Passage skandieren und hervorheben. Die Bedeutung der Transparenz als Eigenschaft des von Kowanz bevorzugten Baumaterials (Glas) spiegelt sich auch in der Verwendungsart des Wortes wider. Die beiden von der Künstlerin gewählten Begriffe beschränken sich darauf, ihre Beziehung zu Ort und Kontext zu beschreiben – wieder ohne Freiräume für Interpretationen zu lassen. Die Anordnung der Wörter provoziert und verschärft diese Wahrnehmungsübung jedoch. Die Neonelemente, die jeden Buchstaben bilden, setzen sich aus jeweils drei Stelen zusammen, sodass insgesamt sechs Gruppen entstehen, die in einem gewissen Abstand voneinander positioniert sind. Die Buchstaben, die die beiden Wörter bilden, erscheinen jedoch in horizontaler Lage und nicht – wie zu erwarten – vertikal. Somit entsteht eine Art perspektivischer Kegel, der die Tiefe der urbanen Passage betont. Das Werk fungiert als Mittel, das die Wahrnehmung anregt, wobei wenig Wert auf die interpretative Ebene gelegt wird. Gefördert wird vielleicht – dank der Transparenz der Materialien (was nicht nur eine Frage der Technik ist) sowie der Unmissverständlichkeit der ausgewählten Wörter (vorausgesetzt, sie werden in der richtigen Richtung gelesen) – das Erlangen von Bewusstsein seitens des Betrachters beziehungsweise des Bürgers in Bezug auf den Kontext, in dem er lebt.
Die Arbeit am Jacob-Burckhardt-Haus geht auf die Zusammenarbeit zwischen Kowanz und dem Architekten Hans Zwimpfer zurück, eine Zusammenarbeit, die sich bereits einige Jahre zuvor bei dem Entwurf der Innenfassade des ersten Hofs ("Lichthof") des Peter-Merian-Hauses in Basel konkretisiert hat (1995–1999). Dieses Werk stellt nicht nur einen der gelungensten Momente der Beziehung zwischen Kunst und Architektur dar, sondern auch ein bedeutendes konzeptionelles Verbindungsglied zum besseren Verständnis des Zusammenhangs zwischen Wort, Licht, Transparenz und Wahrnehmung. LIGHT IS WHAT WE SEE fasst diese Aspekte zusammen und lässt sie buchstäblich an der Oberfläche des Gebäudes ans Licht kommen, unter strikter Einhaltung der strukturellen Erfordernisse des Gebäudes. Jeder einzelne Buchstabe erscheint in einem Glasmodul von circa 150 Zentimeter Breite und 330 Zentimeter Höhe. Die Schrift erstreckt sich über die fünf Etagen des Gebäudes und wird zweimal dargestellt, sodass sie von beiden Seiten der Fassade (von innen und von außen) richtig zu lesen ist. Einen Unterschied gibt es jedoch, der – nicht zufälligerweise – die Wahrnehmungsweisen betrifft: Vom Hof des Gebäudes ist die gesamte Schrift auf einen Blick lesbar, während sie sich von der anderen – inneren – Gebäudeseite erst beim Hinauf- und Hinabsteigen der fünf Etagen erschließt. Augenblicklichkeit und Kinetismus sind die beiden Konditionen (Alpha und Omega) der Wahrnehmung, mit denen Brigitte Kowanz arbeitet. Die Schrift mit ihrer prägnanten Bedeutung scheint sich darauf zu beschränken, die primären Konditionen unserer Erfahrung zu beschreiben. Licht ist sowohl das Mittel, mit dessen Hilfe wir sehen, als auch ganz konkret der Gegenstand unserer Betrachtung – das, was wir hier buchstäblich ‚vor Augen‘ haben und dessen Lesbarkeit je nach Tageszeit und veränderlichem Verhältnis zwischen natürlicher und künstlicher Quelle variiert. Das Werk ist vollständig in das Gebäude integriert, bildet aber auf dessen Oberfläche einen Hinweis auf eine phänomenale Evidenz, derer wir uns zuvor nicht bewusst waren, auch wenn wir darin versunken leben. Es ist ein Beispiel für die kommunikative – oder eher epiphanische – Bedeutung des Wortes, übertragen auf die strukturelle Wechselbeziehung zwischen Kunst und Architektur; ein Beispiel, das angesichts eines gewissen ethischen/erzieherischen Aspekts auch an die "architecture parlante" des Zeitalters der Aufklärung erinnert. Die Schrift von Kowanz verfolgt jedoch keinen ideologischen Zweck mehr, sondern zielt vielmehr darauf ab, einen existenziellen Zustand zu enthüllen, der jeden von uns betrifft: das konkrete Versunkensein in das Licht. Diese außerindividuelle Dimension bildet eine Konstante  im Werk von Kowanz, aus der die Notwendigkeit entsteht, sich einem kollektiven Subjekt – dem ‚Wir‘ – zuzuwenden. Die Bedingungen von Gleichheit und Gegenseitigkeit werden enthüllt, die unsere – auf einer gemeinsamen bioperzeptiven Basis beruhende –  Existenz ermöglichen. Der epiphanische Charakter der Schrift gilt auch für andere Arbeiten der Künstlerin  und betrifft die Enthüllung der Basis für unser ‚Hier und Jetzt‘, die unsere radikale ‚Kontingenz‘ bestimmt. Diese Kontingenz ist als möglicher Anfang für eine andere Lebensweise anzunehmen, die nicht in einem metaphysischen ‚Anderswo‘ stattfindet, sondern im ‚Hier‘, unter denselben grundlegenden und alltäglichen Lebensbedingungen, und für die das Werk ein Mittel zur Erleuchtung darstellt.

Botschaften, Kalligrafien

In den Werken von Kowanz drückt sich die Kommunikationsebene – die explizit an Wort und Botschaft gebunden ist – auf verschiedene Art und Weise aus. Realisierungsbedingung ist jedoch stets die Selbstevidenz und das Festhalten an einer kontingenten Situation, die sozusagen von innen heraus geöffnet wird. In dem für das Schulzentrum St. Margarethen in Sterzing entworfenen Schriftzug (1999–2002) – "Die verschlüsselte Nachricht dieses Schriftbandes bewirkt das Zustandekommen seiner Form" bzw. "Il messaggio cifrato di questa scrittura determina la struttura della sua forma" – wird die grafische Klarheit der Buchstaben (ähnlich der Arbeit am Peter-Merian-Haus) durch ihre Positionierung zu einem Spiel. Der Schlüssel hierzu ergibt sich aus der Präzision, mit der sich der Text an dem konstruierten Träger entlang windet. Dabei bilden die Buchstaben D (Destra) und S (Sinistra) in der italienischen Version – beziehungsweise L (Links) und R (Rechts) in der deutschen Version – die Ecken für den Richtungswechsel. Die Klarheit der Botschaft bedeutet jedoch nicht, dass es keine Entschlüsselungsebene gäbe, die es zu decodieren gilt. In diesem spezifischen Fall erschließt sich der Sinn (der visuelle Aspekt) der Botschaft, wenn sie in Bewegung umgesetzt wird. Zwischen der Klarheit der Botschaft, ihrer Selbstevidenz bis an die Grenzen der Tautologie, dem Inhalt in Anlehnung an die vorgegebenen Bedingungen (an das ‚Hier und Jetzt‘) und dem tatsächlichen Verständnis liegt ein Prozess der notwendigen Entschlüsselung. In diesem Sinne stellt das Werk für Kowanz eine Evidenz dar, die es zu erlangen gilt; die Arbeit beruht auf einer Botschaft, die ihrem Wesen nach eine Verschlüsselung der Unmittelbarkeit darstellt.
Die Systeme, auf die die Künstlerin zur Verschlüsselung/Umsetzung einer Botschaft zurückgreift, stellen unverwechselbare Aspekte ihrer Arbeit dar. Eines basiert auf der Kreuzung zweier grundlegender Systeme unseres Kommunizierens und Denkens – des numerischen und des alphabetischen Systems. Das andere basiert auf den beiden Komponenten des Morsecodes – dem Punkt und dem Strich (diese Lösung wurde bei vielen architektur-/umweltbezogenen Installationen in Übergangsräumen verwendet). Auch wenn die Botschaft (siehe Sterzing und Basel) keiner spezifischen Entschlüsselung bedarf, wird eine ‚Dualität‘ beibehalten: Umkippen der Buchstaben (ORT WEG); Lesbarkeit von der Rück-/Vorderseite, von oben nach unten und umgekehrt (LIGHT IS WHAT WE SEE). In allen genannten Fällen besteht die Botschaft aus objektiven, neutralen Elementen, die sich aus dem alphanumerischen System, der formalen Codierung des Morse-Alphabets oder der kommunikativen Wirkung der grafischen Layouts ableiten lassen. Aber insbesondere in den Arbeiten seit 2004/05 – beispielsweise ANOTHER TIME... – hat Kowanz ein weiteres Element für die Komposition ihrer Lichttexte eingeführt: die individuelle Handschrift. Diese verwendet sie nicht nur für Werke, die im Atelier entstehen, sondern auch als zentrales Element für komplexe Installationen im architektonischen Raum. Hierbei handelt es sich um einen Übergang von beträchtlicher Bedeutung, der wohl an sich eine Vertiefung verdient hätte. Im vorliegenden Text wird jedoch lediglich ermittelt, wie dieses Element verstanden werden kann: zum einen als eine betont individuelle Herangehensweise an das Thema ‚Botschaft‘ – so als ob Kowanz dazu überginge, die Unpersönlichkeit der Kommunikationsform durch das Einbeziehen eines auch formal subjektiveren Elements auszugleichen; und zum anderen als komplexer Weg innerhalb der "Schriftform", die auf der Gegenüberstellung mit anderen – nicht-westlichen – Schreibweisen basiert. Als wegweisende Ankündigung in diese Richtung könnte folgendes Werk von großer emotionaler Intensität betrachtet werden: VERGESSEN (2001). Die Schrift erscheint in hebräischen Buchstaben, deren Grafie – im Vergleich zu typisch westlichen Schreibweisen oder einer minimalistischen Formalisierung in Gestalt von Punkten und Strichen – einen flüssigeren, kurvigeren und abgerundeteren Verlauf aufweist. Ein weiteres Element scheint sich aus dem Kontakt der Künstlerin zur arabischen Welt zu ergeben. In einem Interview mit Christian Reder nimmt Kowanz kurz, aber prägnant Bezug auf die Kalligrafie als nicht-westliche Kunstform, die eben aus diesem Grund eine vielschichtige Universalisierung anstreben könnte, als ein Zusammenspiel von Codes.1) Im Übrigen ist bekannt, dass die arabische Kalligrafie eine räumliche Bedeutung hat und sich als einzig mögliche Verzierung auf der Oberfläche des Konstruierten darstellt.
Die Verwendung der Kursivschrift seitens Kowanz verweist somit auf eine Reflexion über den Sinn der individuellen Schrift als formales Element, das in der Lage ist, die abstrakte Kommunikationsebene der Botschaft und den lebendigen Zug der kalligrafischen Geste zusammenzuhalten.
In der großen Installation für das Max Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster (2006) scheinen diese Aspekte eine überraschende Lösung zu finden – in Form einer röhrenförmigen Neonstruktur (Lichtlisene) mit einem Durchmesser von 26 Millimetern und einer Gesamtlänge von 120 Metern. Die Kursivschrift IN VIVO–VITRO, aus der sich der Titel des Werks ableitet, erscheint in einer Spiegelvitrine. Diese erzeugt mithilfe ihrer technischen Voraussetzungen einen virtuell unendlichen Raum. Aus der Leserlichkeit/Unleserlichkeit der individuellen Kursivschrift ergibt sich eine augenblickliche Kristallisierung der unabsehbaren Strecke der sehr langen Lichtlinie; diese dehnt sich völlig frei und in unterschiedlichen Höhen über den architektonischen Raum aus, der zwischen zwei Zugangspunkten zum Gebäude liegt (von der Straße und vom Parkplatz). Die Unabsehbarkeit der räumlichen Bewegung und die Kursivschrift werden zu zwei Momenten, wobei der eine aus dem jeweils anderen zu entstehen bzw. der eine sich in dem jeweils anderen fortzusetzen scheint – so als ob der leuchtende Verlauf der Röhrenstruktur (eine rein räumliche Geste) die Schriftform suchen würde, die ihren Sinn codieren kann. Andererseits scheint es die Schrift selbst zu sein – eine nicht länger zu bändigende Kalligrafie – die sich über den gesamten architektonischen Raum ausdehnt. Dieses Kunstwerk von Kowanz scheint eine Problematisierung des Kontexts anzustreben: Es widerspricht der Kälte und Geometrie der Hightech-Strukturen und verwandelt die Glasflächen in virtuelle Räume, die in atemberaubender Weise die Windungen des leuchtenden Arabisch erweitern. Tatsächlich sucht das Werk eher eine tiefer gehende Art und Weise, sich an den vorgegebenen Kontext zu halten. Der Grund dafür liegt gerade darin, dass es nicht dessen Struktur unterstützt, sondern ihr zu widersprechen scheint, indem es versucht – was nicht möglich wäre, ohne die Individualität einer übermäßig erweiterten kalligrafischen Geste zu verwenden – die Unbändigkeit des Lebens auszudrücken. Das Werk wird somit zum paradoxen und leuchtenden Verbindungselement zwischen dem architektonischen Bild eines wissenschaftlichen Labors, das das Glas als keimfreien Behälter schlechthin verwendet, und dem Leben, das aus demselben Material unabsehbar und unbändig eine andere Form erzeugt. Die Adhärenz an einen Kontext dieser Art realisiert sich demnach nicht nur durch die effektive Schaffung einer Beziehungslinie zwischen den beiden Gebäudezugängen bzw. -ausgängen, sondern – auf subtilere Weise – indem das zum Ausdruck gebracht wird, was sich in diesem Gebäude verbirgt, sprich die unbewusste Dimension, die sich in der Vitalität, Zwanglosigkeit, Unleserlichkeit eines Lichtwegs ausdrückt, der nun nicht mehr rein funktional ist. Es geht um einen tiefen Raum der Verbindung, der entlang der Berührungslinie mit dem vorhandenen Kontext und unter Festhalten an der architektonischen Konstruktion immer weiter nach einer zusätzlichen Dimension forscht.

1) Christian Reder, „Es geht um Fragen der Optimierung. Brigitte Kowanz im Gespräch mit Christian Reder", in: Lesebuch Projekte – Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne, Christian Reder (Hg.) (Vienna/New York: Springer [Edition Transfer], 2006), 99–112.

In: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien (Hg.), Brigitte Kowanz. Now I See (Ausst.kat.), Verlag für moderne Kunst Nürnberg, 2010, S. 218-225.